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Kriminalinspektorin Sofi Johansson musste längst nicht mehr ihre Schritte zählen. Ihr Blick fiel über Karl-Emils Schulter auf die anderen Tanzpaare, die Kapelle und durch die hohen Fenster auf den Mälarfjord, wo sie als einziges Gebäude das beleuchtete Stadthaus am anderen Ufer erkannte. Alle zwei Minuten fuhren U-Bahnen über die Centralbrücke, das konnte sie auch noch sehen.

Bei Karl-Emils Einladung zum Tanz im Mälarsaal hatte sie zunächst gezögert und sich ausgemalt, wie sie unter lauten alten Leuten mit Karl-Emil zu schmierigem Schlager tanzen würde. Dabei war sie doch seit ihrer Jugend ein entschiedenes Calypso-Mädchen, vor allem innerlich. Aber nun tanzte sie schon seit zwei Stunden mit ihrer Mittwochsverabredung zu den Klassikern von Evert Taube. Sie war bei weitem nicht die einzige junge Begleitung, auch wenn die meisten Gäste zur gleichen Zeit zur Schule gegangen waren wie Karl-Emil und seine Freunde Janne und Hennes.

Als das Lied verklang und die Kapelle ihre Instrumente zur Pause ablegten, führte Karl-Emil sie zum Tisch zurück, wo Janne und Hennes dem livrierten Ober dabei zusahen, wie er die zweite Flasche Champagner entkorkte und die flachen, weiten Gläser füllte. Sofi kam sich vor, als hätte Ingmar Bergman eine Kamera auf sie gerichtet.

Karl-Emil erntete von allen Seiten Komplimente und anerkennendes Nicken für seine hübsche Enkelin oder Großnichte. Sofi hätte es verwegener gefunden, wenn man sie für seine unanständig junge Geliebte gehalten hätte, aber irgendwie kam niemand auf diesen Gedanken, obwohl Karl-Emils Haar strohblond und ihres tiefschwarz war.

Sie hatte die drei in der Seejungfrau unten am Hammarbyhafen kennengelernt, wo sie an ihrem freien Mittwochvormittag immer spät frühstückte. Dort saßen die drei Pensionäre am Tisch in der Ecke und blickten beim Pokern mit Wehmut auf die Kräne. Alle drei hatten bei der Stockholmer Hafengesellschaft gearbeitet.

Die drei Männer erhoben sich jetzt und warteten mit den Gläsern in der Hand, während Janne auf seine geöffnete Taschenuhr starrte. Er zählte die letzten zehn Sekunden bis Mitternacht laut mit, klappte bei null die Uhr zu und verstaute sie in seiner Westentasche. Man stieß an, und Sofi bekam Glückwünsche für ihre Beförderung von einer Kriminalinspektorin ohne besondere Befugnisse zu einer Kriminalinspektorin mit besonderen Befugnissen. Wegen der Umorganisation ihrer Abteilung waren alle Mitglieder um einen halben Rang hinaufgerutscht.

Karl-Emil war am ältesten und kannte alle Spukhäuser in der Stadt. So gut wie jedes Haus musste ein Spukhaus sein, wenn Sofi Johansson nach den drei Monaten des Zuhörens Bilanz zog. Janne konnte beschwören, in sechzig Jahren Freundschaft mit Karl-Emil keine einzige Spukgeschichte zweimal gehört zu haben. Anscheinend erinnerte nur sie die Geschichte mit dem Straßenbahnfahrer und dem Raben an Edgar Allen Poe und Alfred Hitchcock. Karl-Emil hatte eine goldene Zukunft bei den Trockendocks auf Beckholmen hinter sich, wo er Jahr für Jahr auf einem der Giraffenkräne sitzend genug Zeit für seine Schauerheftchen gehabt hatte. Jannes Geschichten aus seinem Leben als Schleusenwart am Slussen und später als Hafenmeister von Stockholm endeten stets damit, dass er ins Wasser gefallen war.

„Es ist halb so schlimm“, antwortete Janne auf Sofis Frage, wie er es heil durch diese Wasserhölle geschafft hatte. „Solange man nicht in Panik gerät! Wenn du zu weit hinabgezogen wirst, gibt dich die Tiefenströmung erst hinten bei den Finnlandfähren wieder frei. Treibst du oben, drücken dich die Wirbel am Ende der Schleuse tief hinab. Wenn du Ruhe bewahrst und dich vom Hauptstrom erfassen lässt, trägt er dich durch den Tunnel und gibt dich nach zweihundert Metern frei.“

Soviel Mühe Janne sich auch gab, es gelang ihm nicht, Sofi zum Gruseln zu bringen. Im Wasser geriet sie nie in Panik.

„Im Urlaub auf La Palma bin ich mal auf eine bunte Plastiktüte zugeschwommen“, konterte Sofi. „Sie trieb weit vom Strand entfernt auf dem Wasser. Aber das war gar keine Plastiktüte.“

Karl-Emil, Janne und Hennes beugten sich interessiert vor.

03 - Der kopflose Engel
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